Dieser Beitrag wurde von unserer Gastautorin Johanna Wienzek verfasst. Johanna ist Mitglied im Näh deinen Stil Club und freie Texterin.
Das Thema „Körperakzeptanz“ hat im Näh Deinen Stil Club hohe Wellen geschlagen. Elke hatte aus Recherche-Gründen für ihren Podcast das Thema kurz angesprochen, und seither kommen täglich neue Beiträge hinzu. Plötzlich melden sich auch die Frauen zu Wort, die sonst eher still im Hintergrund mitlesen. Es ist sehr bewegend, emotional und vor allem erhellend, was wir uns dort – im geschützten Raum – gegenseitig alles erzählen können. Wir sitzen alle im selben Boot! Dieses Thema schafft eine ganz neue Verbundenheit und Solidarität, und das ist ganz berührend und schön. Schon lange geht es nicht mehr nur um die richtigen Farben und Schnittmuster.
Als Elke mich fragte, ob ich einen Artikel über Körperakzeptanz, Body Positivity und das ganze Drumherum schreiben würde, war ich hocherfreut. Na klar! Sehr gern. Ich habe bei jedem einzelnen Beitrag genickt und hätte eigentlich jedes Mal ellenlange Kommentare dazu schreiben können.
Da ist es nur konsequent, eine Abhandlung dazu zu verfassen. Easy peasy, Heimspiel! Dazu müsste ich doch locker einen tollen Beitrag schreiben können!
Dachte ich. Und dann: Schreibhemmung. Es scheint mir nahezu unmöglich, über das Thema „Körper“ zu schreiben, ohne zu missionieren, zu polarisieren, jemanden auszugrenzen, persönlich zu treffen oder oberflächlich zu bleiben, um all dies zu vermeiden. Was sollte ich tun? Ich habe ja ganz viel dazu zu sagen, und doch ist das Thema so sensibel.
Und dann passierte etwas, was Kreativen häufig geschieht: die besten Ideen kommen unter der Dusche. In meinem Fall nach dem Duschen. Ich hatte ein sehr eindrückliches Erlebnis: ein kleiner Kosmetikspiegel steht in unserem Bad in einem derart „ungünstigen“ Winkel auf der Ablage, dass ich, ohne es zu wollen, beim Abtrocknen eine Panorama-Ansicht meiner hinteren Oberschenkel zu sehen bekam. Ein Körperteil, das ich sonst niemals aus dieser Perspektive zu Gesicht bekomme.
Und siehe da: ich habe Cellulitis! Nicht, dass ich das nicht gewusst hätte, aber so krass und ohne Filter habe ich das noch nie wahrgenommen. Lauter Dellen. Kein wirklich schöner Anblick! Aber bin ich deswegen zusammengebrochen? Nein! Ich dachte nur: Was soll’s? Ich bin fast 54 Jahre alt, und ich weiß, dass ich sehr viel mehr bin als ein paar Dellen auf den Oberschenkeln. Diese Beine haben mich schließlich bis hierhin gebracht.
Ich begann, darüber nachzudenken, was wir schon alles zusammen erlebt haben.
Ich habe auf diesen Beinen schon viele mutige Schritte gewagt, vom ersten Schultag bis zum Uni Examen haben sie mich getragen. Auf diesen Beinen bin ich zum Traualtar gegangen und habe auch den schweren letzten Gang zu manch einer Beisetzung damit überstanden. Wir waren zusammen auf dem Vesuv, sind im Meer geschwommen, haben im Karneval geschunkelt, haben getanzt und sind beim Placebo-Konzert in der ersten Reihe auf- und ab gesprungen. Diese Beine machen alles mit! Ob Yoga, Tanzen, auf dem Sofa liegen, in der Schlange an der Kasse stehen oder Joggen, alles ist möglich.
Ich kann dank dieser wunderbaren Beine überall hin, ich bin frei und beweglich. Habe ich jemals an die Dellen gedacht, wenn ich gerade von A nach B gesprungen bin? Nein, natürlich nicht. Warum also stelle ich alles auf den Prüfstand, wenn es ungeschönt zu sehen ist? Ist das Zeitgeist? Ist es etwas ganz Archaisches? Ich weiß es nicht.
Wir werden seit einigen Jahren mit dem Begriff „Body Positivity“ konfrontiert, der zunächst als Befreiungsschlag fungierte. Viele Frauen (und ich denke auch Männer) haben sich getraut, sich vermeintlich so zu zeigen, wie sie sind. Sich auch dann im Minirock und enger Kleidung in die Welt hinaus zu trauen, wenn die Kleidergröße außerhalb der gängigen Norm liegt. Das Individuelle wird bis zum Exzess betont und präsentiert. Verhüllung und Rückzug waren gestern, Grenzenlosigkeit ist die neue Realität.
Ich verfolge seit Jahren den Stress, unter dem wir Frauen stehen: war es früher „Pflicht“, sich zu verhüllen, wenn man nicht der „Norm“ entsprach, ist es heutzutage „Pflicht“ geworden, sich nahezu zu exhibitionieren und Selfies in den Social Media zu posten, die signalisieren: „Schaut her, ich bin sooooo eins mit meinem Körper!“. Das Diktat ist geblieben, lediglich die Gewichtung hat sich verändert.
Doch ist es damit automatisch so, dass wir es alle ganz toll und super finden? Laufen nicht trotzdem Jahrtausende alte Programme bei uns ab? Muss ich das denn wirklich schön finden, nur, weil es „politisch korrekt“ ist? Um es vorweg zu nehmen: ich habe keine Lösung und auch keine Antwort darauf.
Aber ich habe eine Herangehensweise für mich gefunden, damit umzugehen: ich gehe als Erstes in die Wahrnehmung. Diese Übung begleitet mich in allen Lebenslagen – erst einmal ausatmen, spüren: was geht gerade vor sich? Fängt der innere Kritiker sofort an zu nörgeln, weil ich heute keinen makellosen Teint „leisten“ kann? Stelle ich mich nanosekunden schnell über eine andere Person, indem ich mich mit ihr vergleiche? Beurteile ich mich und andere gerade?
Unschön, ich weiß. Aber zutiefst menschlich! Wir alle tun dies. Wir leben, und das beinhaltet, dass wir fühlen, denken, alte und neue innere Programme durchlaufen, und das ist auch völlig normal und jenseits der Wertung. Wenn wir jedoch darin stecken bleiben, schaden wir in erster Linie uns selbst – und häufig auch Anderen. Ich habe für mich herausgefunden, dass es sinnlos ist, etwas weg affirmieren zu wollen, das gehört und gesehen werden möchte.
Ich kann mir tausend Mal sagen: „Meine Beine sind schön und glatt und ich liebe und akzeptiere mich so, wie ich bin“. Mein Inneres weiß es immer besser – es sagt mir ganz deutlich: „Nein, das stimmt nicht.“ Und das wahrzunehmen, mir selbst einzugestehen: ja, ich finde die Dellen nicht so toll, aber ich BIN nicht diese Dellen, sie gehören ganz einfach zu mir. Das ist ein Anfang.
Meine kleine Aufzählung all’ der tollen Dinge, die ich mit meinen Beinen schon erleben durfte, hat mir einen neuen Blickwinkel eröffnet. Ich habe ja noch so viele andere tolle Körperteile, mit denen ich das Gleiche tun kann! Ist das vielleicht ein Weg zu Körperakzeptanz? Kann uns eine Würdigung gerade jener Teile unseres Körpers, die wir nicht so gut leiden können, womöglich eine Hilfe dabei sein, zu begreifen, dass wir ein Wunder sind? Dass dieser unglaublich komplexe, einzigartige Körper genau jetzt in diesem Leben unser Geschenk ist? Es ist einen Versuch wert.
Auf jeden Fall hat der Näh Deinen Stil Club bei mir etwas in Bewegung gebracht. Ich sehe dort so viele wunderbare, schöne, spannende, interessante, individuelle Frauen, und bei jedem Kommentar, bei jedem noch so kleinen Beitrag lernen wir dort gemeinsam, achtsam zu schauen und achtsam zu kommentieren. Und dabei lenken wir den Blick auf das Schöne, das Wesentliche.
Bei Anderen fällt es mir übrigens leichter, das Schöne zu sehen. Immerhin – es ist ein Anfang! Wenn es beim Gegenüber klappt, gelingt es mir auch irgendwann bei mir selbst.
Ich übe noch.
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